Unitarismus in Deutschland
Nachdem das Großherzogtum Hessen 1875 die Kirchensteuer eingeführt hatte, verließen über viertausend protestantische Christen in Rheinhessen die evangelische Landeskirche, schlossen sich in unabhängigen Gemeinden zusammen und begründeten 1876 die Gemeinschaft der Freien Protestanten. Unter dem Einfluss des Predigers Christian Elßner, der vorher als freireligiöser Pfarrer tätig gewesen war, entwickelten die Freiprotestanten in den folgenden Jahrzehnten eine liberale, von der Aufklärung geprägte Glaubenslehre. Sie entfernten sich dabei zunehmend vom traditionellen Christentum und näherten sich den freireligiösen Gemeinden an.
Nachdrücklich geprägt wurde die Gemeinschaft durch das Wirken Rudolf Walbaums. Walbaum, ein ehemaliger evangelischer Pfarrer, arbeitete von 1909 bis zu seinem Tode 1948 fast vierzig Jahre lang als freiprotestantischer Pfarrer in Rheinhessen. Auf internationalen Kongressen in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg knüpfte er die ersten Kontakte mit britischen und amerikanischen Unitariern an.
Besonders auf dem Kongress der International Association for Religious Freedom (IARF) 1910 in Berlin, bei dem er selbst als Referent auftrat, stellte er eine weitgehende Übereinstimmung in den Glaubensvorstellungen mit amerikanischen Unitariern fest und bezeichnete seither seine eigene Glaubensauffassung als Unitarismus. Für die Freiprotestanten führte er neben dem Hauptnamen Freie Protestanten den Beinamen Deutsche Unitarier ein.
In Clemens Taesler, dem Pfarrer der freireligiösen Gemeinde in Frankfurt am Main, fand Walbaum einen Gleichgesinnten. Zusammen gründeten sie 1927 den Deutschen Unitarierbund, der aber 1933 verboten wurde. Aus Taeslers Frankfurter Gemeinde ging nach dem Zweiten Weltkrieg die Unitarische Freie Religionsgemeinde hervor.
Als im Frühjahr 1945 das NS-Regime zusammenbrach, entschloss sich Walbaum, die Gemeinschaft der Freiprotestanten über Rheinhessen hinaus auszuweiten. Auf diese Weise wollte er für innerlich entwurzelte und den christlichen Glaubensrichtungen fernstehende Menschen eine geistige Heimat schaffen. In den folgenden Jahren schlossen sich über dreitausend neue Mitglieder in verschiedenen Teilen Deutschlands zu Gemeinden zusammen, die sich als Deutsche Unitarier bezeichneten. Der neue Name Deutsche Unitarier Religionsgemeinschaft wurde 1950 beim Amtsgericht Worms eingetragen, wobei den einzelnen Gemeinden freigestellt wurde, den Zusatz Freie Protestanten im Namen zu führen.
Nach Walbaums Tod 1948 brachen heftige Auseinandersetzungen innerhalb der Religionsgemeinschaft aus. Zunächst entstanden Streitigkeiten zwischen den Urgemeinden in Rheinhessen einerseits und den neu gegründeten rechtsrheinischen Gemeinden andererseits. Zwischen den stärker traditionsbetonten rheinhessischen Gemeinden und den sich überwiegend als nichtchristlich betrachtenden Neugründungen gab es unterschiedliche Auffassungen über die weltanschauliche Ausrichtung der Gemeinschaft. Sie stritten sich insbesondere über den Bezug zur christlichen Tradition.
Auf einer Generalversammlung in Eppelsheim 1948 konnten diese Differenzen noch einmal überbrückt werden („Eppelsheimer Formel“), aber 1954 trennten sich die Urgemeinden von den Deutschen Unitariern und gründeten einen eigenen Verein, der heute Freie Religionsgemeinschaft Alzey – Humanistische Gemeinschaft Freier Protestanten heißt.
Nach dem Ausscheiden der Urgemeinden setzten sich bei den Deutschen Unitariern inhaltliche wie organisatorische Auseinandersetzungen fort. Der Streit entzündete sich jetzt vornehmlich an der Frage völkischer Vorstellungen innerhalb der Gemeinschaft. In den achtziger Jahren kam es schließlich zur Abspaltung des völkischen Flügels, der 1989 den Bund deutscher Unitarier – Religionsgemeinschaft europäischen Geistes gründete.
Parallel zu diesen Auseinandersetzungen erfolgte seit den sechziger Jahren eine allmähliche Ausweitung und Intensivierung der Kontakte der Gemeinschaft nach außen hin. Eine engere Zusammenarbeit mit anderen liberalen Religionsgemeinschaften und freigeistig orientierten Gruppen im In- und Ausland war die Folge.
Abhandlungen zu unserer Geschichte:
- Kasseler Erklärung 2011
- Referat in Göttingen 2012
- Referat in Worms 2015
(entsprechende PDF-Dokumente: siehe "Downloads")
Im Jahr 2015 änderte die Gemeinschaft ihren Namen in "Unitarier - Religionsgemeinschaft freien Glaubens". Sie ist Mitglied in der International Association for Religious Freedom (IARF), dem Dachverband Freier Weltanschauungsgemeinschaften (DFW) sowie – über die Mitgliedschaft im Dachverband Freier Weltanschauungsgemeinschaften (DFW) – in der International Humanist and Ethical Union (IHEU) und in der European Humanist Federation (EHF).
Dieser Text wurde ursprünglich von Christian Langenbach verfasst und von verschiedenen Personen überarbeitet.