Erläuterung der Grundgedanken
Zum vertiefenden Verständnis der Grundgedanken hat Prof. Dr. Hans-Dietrich Kahl, zum Zeitpunkt der Verabschiedung dieser Grundgedanken Leiter des Geistigen Rates, einen ausführlichen Kommentar geschrieben. Ziel war es, die vielen Überlegungen, die hinter den kurzgefassten Grundgedanken stehen, sichtbar zu machen und so zu Auseinandersetzung und Gespräch anzuregen.
Der Kommentar wurde mit dem Geistigen Rat abgestimmt und erschien zunächst in sechs aufeinanderfolgenden Heften der Zeitschrift „unitarische blätter“ (3/96–2/97) sowie als Sonderdruck zum Unitariertag 1997 in Hameln.
Der Kommentar wurde von Dorothea Kaufmann überarbeitet und formal angepasst.
Idee und Entstehung der Grundgedanken
Die Grundgedanken der Unitarier – Religionsgemeinschaft freien Glaubens K.d.ö.R. stellen in unserem Kulturkreis etwas Ungewöhnliches dar. Sie tragen keine verbindliche Lehre vor, die von allen Mitgliedern – oder gar von allen Menschen – geglaubt werden soll, womöglich als „übernatürliche Offenbarung“. Sie verstehen sich als von Menschen formulierte Aussagen, die sich in einem demokratischen Meinungsbildungsprozess als gemeinschaftsfähig herauskristallisiert haben; ausdrücklich lassen sie persönliche Ergänzungen, ja auch Abweichungen zu.
Von Zeit zu Zeit werden sie neu gefasst. Warum? Erstens sind wir grundsätzlich offen für neue Einsichten und Erfahrungen. Zweitens sind wir uns bewusst, dass die Aussagekraft von Worten begrenzt ist und sich immer wieder bessere Formulierungen finden lassen. Und drittens verkennen wir nicht, dass Sprache auch dem Zeitgeschmack unterliegt; darum wollen wir nachrückende Generationen nicht an ältere Formulierungen binden.
Die gegenwärtige Fassung wurde von der Hauptversammlung 1995 ohne Gegenstimmen angenommen (und von der Hauptversammlung 2015 geringfügig geändert). Sie ist das Ergebnis eines sechsjährigen ständigen Austauschs zwischen dem Geistigen Rat, bei dem die Federführung lag, und der Gemeindebasis. Ihr gingen Fassungen von 1977 und 1957 (Leitgedanken) voraus, und auch diese hatten ihre Vorläufer in der Geschichte unserer 1876 gegründeten Religionsgemeinschaft.
Der Text bildet ein Ganzes. Jeder einzelne Satz enthält eine Aussage für sich, doch sie steht in Zusammenhängen, die sich gegenseitig erläutern. Es erscheint sinnvoll, die Zusammenhänge ausführlicher anzusprechen.
Die „Präambel“
In der Unitarier – Religionsgemeinschaft freien Glaubens K.d.ö.R. haben sich Menschen aus religiöser Selbstverantwortung zusammengeschlossen und eine demokratische Verfassung gegeben. Jedes Mitglied kann seine religiösen Vorstellungen einbringen und sich an der Erarbeitung gemeinsamer Glaubensaussagen beteiligen.
Wir Unitarier stehen in einer Jahrhunderte alten Tradition freier Religion und Weltanschauung und sind verbunden mit geistesverwandten Bestrebungen in aller Welt. Sie sind sich der Schwierigkeit bewusst, religiöse Vorstellungen in Worten auszudrücken. Bei Wahrung der Freiheit ihrer persönlichen Auffassungen haben sie sich auf folgende Grundgedanken geeinigt:
Den fünf ausformulierten Grundgedanken geht ein Vorspann – die sogenannte Präambel – voraus. Sie sagt weniger über die inhaltliche Substanz, sondern spricht mehr die formalen Voraussetzungen unserer Gemeinsamkeit an. Trotzdem hat man sie als den „Grundgedanken der Grundgedanken“ bezeichnet, und das nicht ohne Sinn. Tatsächlich bringt sie das Fundament zum Ausdruck, auf dem unsere unitarische Gemeinschaft steht. Da sie nicht bekennt, sondern berichtet, ist sie nicht im „Wir“-Stil gefasst wie die eigentlichen Grundgedanken.
Selbstverantwortung – das heißt Verantwortung vor sich selbst – wird häufig für unmöglich erklärt: Verantwortung setze ein befragendes Gegenüber voraus, zum Beispiel eine göttliche Richterinstanz. Wir sehen jedoch, dass der Mensch grundsätzlich imstande ist, kritischen Abstand auch zu sich selbst zu nehmen. Eben das macht Selbstverantwortung möglich.
Religiös bedeutet dies, dass niemand – kein Einzelner und keine Institution – einem anderen Vorschriften zu machen hat, was er glauben soll. Das ist allerdings kein Freibrief für schrankenlose Beliebigkeit, denn die Verantwortung des Einzelnen bestimmt auch die persönliche Glaubensentscheidung und ihre Umsetzung im alltäglichen Leben. Auch wenn jemand sich freiwillig einer Autorität anvertraut, der er aus innerer Überzeugung folgt, wird diese Selbstverantwortung nicht aufgehoben.
Selbstverantwortung ist eine wichtige Voraussetzung unitarischer Gemeinsamkeit. Selbstverständlich ist dies nicht der alleinige Grund für den Zusammenschluss zur Religionsgemeinschaft. Ihre Basis ist inhaltlicher Art, eine gemeinsame Überzeugung. Dies gilt jedoch für jede religiöse Gemeinschaftsbildung und wird darum nicht näher im Vorspann angesprochen, der das Besondere dieser einen Gemeinschaft herausstellt, sondern erst später, in allgemeineren Zusammenhängen. Der Vorrang, der hier der Selbstverantwortung und damit der Selbstbestimmung zugesprochen wird, soll sicherstellen, dass die Gemeinsamkeit für den Einzelnen nicht zur einengenden Fessel wird.
Äußerer Ausdruck dieser Grundeinstellung sind die demokratischen Verfassungsformen, die das prinzipiell gleiche Mitspracherecht aller Beteiligten garantieren. Konsequenterweise gilt es nicht nur für formale und technische Abläufe, sondern auch für die inhaltlichen Aussagen. Alle Mitglieder sind befugt und aufgerufen, an Profil und Erscheinungsbild der Religionsgemeinschaft mitzuarbeiten. Wie weit diese garantierten Rechte wahrgenommen werden, ist die freie Entscheidung des Einzelnen. Einen „geistlichen Stand“ mit speziellen Vollmachten und Privilegien gibt es für die Unitarier – Religionsgemeinschaft freien Glaubens jedenfalls nicht. Sie sind bewusst eine Laiengemeinschaft und schon insofern nicht „Kirche“. Mit der Bezeichnung „Religionsgemeinschaft“ hat man diesen Unterschied schon 1876 zum Ausdruck gebracht.
Traditionen freier – also dogmenfreier – Religion und Weltanschauung reichen weit zurück in die europäische Geschichte, für Unitarier bis ins 16. Jahrhundert, das Jahrhundert der Reformation. Damals wurden Abweichler von christlichen Traditionen blutig verfolgt und bekämpft; nur in wenigen anderen Ländern war es möglich, unitarische Gemeinschaften auszubilden. Unsere unitarische Religionsgemeinschaft geht auf eine Neugründung im Jahre 1876 zurück.
Früh ergab sich Kontakt mit geistesverwandten Gruppen wie den um einige Jahrzehnte älteren Freireligiösen. Heute sind die Unitarier – Religionsgemeinschaft freien Glaubens Mitglied in der „International Association for Religious Freedom“ (IARF), im „Dachverband Freier Weltanschauungsgemeinschaften“ (DFW) und waren bis zu dessen Auflösung Gründungsmitglied im „International Council of Unitarians and Universalists“ (ICUU). Sie sind offen für jede weitere Zusammenarbeit auf dem Boden gegenseitiger Anerkennung und Gleichstellung.
Die Schwierigkeit, religiöse Vorstellungen in Worten auszudrücken, wird von unserer Religionsgemeinschaft sehr ernst genommen. Sie warnt vor Überschätzung einmal festgelegter, auch eigener Formulierungen. Auch deswegen schließt die Freiheit persönlicher Auffassungen innerhalb der Religionsgemeinschaft die Freiheit ein, Gemeinsames anders auszudrücken, als es in den offiziell herausgestellten Grundgedanken geschieht, und Gedanken aufzunehmen, die die Gemeinschaft als solche bisher vernachlässigt hat. Auf unitarischem Boden stehen immer gemeinschaftsoffizielle und persönliche Aussagen nebeneinander.
Über Religion
Religiosität ist ein Grundbestandteil menschlichen Seins. Sie ermöglicht dem Menschen, sich auf das Lebensganze zu beziehen, und motiviert ihn, Sinn zu suchen. Durch Erleben, Deuten und Gestalten des Lebens kommt er zu den sinngebenden Vorstellungen, die seine Religion bilden. Sie gibt ihm Geborgenheit, Lebensmut und Orientierung.
Aus der Religion von Einzelnen entsteht eine Religion der Gemeinschaft, wenn sich Menschen mit ähnlichen religiösen Auffassungen zusammenschließen und gemeinsame Ausdrucksformen entwickeln.
Keine Religion kann beanspruchen, über absolut gültige Wahrheiten zu verfügen, denn ihr Ursprung liegt im Menschen. Glaubens- und Gewissenszwang sind nicht zu rechtfertigen.
In unserer Kulturwelt herrscht ein eingeengter Religionsbegriff, der auf eine wachsende Zahl von Zeitgenossen abschreckend wirkt und sie zu Religionsgegnern macht. Er geht davon aus, dass Religion eine Angelegenheit fester Lehren und Kultformen sei, gehütet von privilegierten Institutionen. Beim Blick auf die allgemeine Religionsgeschichte lässt sich diese Vorstellung nicht halten. Wir stellen ihr unseren eigenen, weiter gefassten Religionsbegriff gegenüber.
Dieser neue Religionsbegriff begründet zunächst einmal die schon erwähnte religiöse Selbstverantwortung. Demnach hat Religion ihren Ursprung im Menschen. Sie erwächst aus Religiosität, die wir als allgemein menschliche Eigenschaft ansehen. Wir sind uns bewusst, dass diese Veranlagung aus anderer Sicht mit anderen Begriffen umschrieben wird.
Dabei wird Religion zunächst als Beziehung auf das Lebensganze verstanden. Auch das ist eine unitarische Deutung, die sich von anderen unterscheidet und später noch ausführlicher vorzustellen ist. Hinzu kommt die Suche nach Sinn. Die Religionsgeschichte kennt dafür zahlreiche Möglichkeiten – sehr viel mehr als nur die Hingabe an prophetische Leitgestalten oder für heilig gehaltene Schriften. Religion als bewusst vertretene Überzeugung erwächst dagegen aus dem Erleben von Wirklichkeit, aus Deutung durch Nachdenken oder Intuition und schließlich aus der Lebensgestaltung durch aktives Handeln, das wiederum neue Erfahrungen bringen kann. Alles zusammen liefert Bausteine und weckt weitere Fragen, an denen die unitarische Überzeugung sich ständig kontrolliert.
Geborgenheit, Lebensmut und Orientierung sprechen wir als die wichtigsten Werte an, die Religion vermittelt. Sie tut das nicht automatisch und nicht jederzeit gleich, denn: Leben vollzieht sich in ständigem Auf und Ab. Doch das religiöse Fundament, einmal gewonnen, geht nie ganz verloren; es kann sich immer wieder erneuern und verstärken. Religionen unterscheiden sich nicht zuletzt darin, wie sie dieses Geschehen deuten: als Kraft, die von außen eingegeben wird oder von innen emporwächst.
Der Weg geht für uns von der Religion des Einzelnen zur Religion der Gemeinschaft. Religiöse Entwicklung kann innerhalb der Gemeinschaft gefördert werden durch Kontakte mit Menschen, die andersartige Erfahrungen gemacht haben. Voraussetzung für den Zusammenschluss ist immer ein Mindestmaß von Einklang. Eine Religion der Gemeinschaft kann auch entstehen, indem viele sich der ausgearbeiteten Auffassung von „Vordenkern“ anschließen. Unitarier sehen darin die Gefahr
der Manipulation und Entmündigung. Für sie kann es darum nur einen Zusammenschluss geben, in dem Glaubensentscheidungen persönlich verantwortet werden.
Religiöser Absolutheitsanspruch ist damit unvereinbar. Er wird daher von uns grundsätzlich abgelehnt mitsamt seiner möglichen Auswirkung in Glaubens- und Gewissenszwang. Diese Ablehnung ist so formuliert, dass sie keinerlei Ausnahme zulässt – auch nicht für unitarische Einzelpositionen. Unitarier erkennen auch in den eigenen Reihen keine Autoritäten an, die als verbindlich auftreten dürften. Sie kennen lediglich Anreger auf Zeit. Die prinzipielle Eigenständigkeit und Selbstverantwortlichkeit des einzelnen Unitariers wird dadurch niemals aufgehoben.
Unitarier maßen sich daher auch nicht an, „den“ Weg und „die“ Wahrheit gefunden zu haben. Wir sind der Meinung, dass alle Religionen in ihren Aussagen nur Annäherungen sein können an etwas, das sich letztlich nicht erfassen und nur innerlich erfahren lässt. Und diese Annäherungen gehen von verschiedenen Voraussetzungen aus, die durchweg menschlich sind, also auf begrenzter Einsicht beruhen. Auch was sich als „übernatürliche Offenbarung“ ausgibt, ist nach unitarischer Auffassung nichts anderes als Schöpfung menschlichen Geistes. Gerade der Anspruch, dass alle dasselbe glauben sollen, ist uns ein Zeichen entsprechender Beschränktheit. Unsere Wertschätzung von Vielfalt, wie sie noch an späterer Stelle zum Ausdruck kommt, gilt auch hier.
Über unitarischen Glauben
Wir glauben, dass alles, was ist, eine Ganzheit bildet. Ihre vielfältigen Erscheinungsformen sind eingebunden in einen allumfassenden Zusammenhang. Wir erleben uns als Teil dieses Zusammenhangs, der uns trägt und auf den wir Einfluss nehmen.
In uns und um uns erfahren wir die gleichen schöpferischen Kräfte, die viele als göttlich erleben. Sie wirken im Großen wie im Kleinen und sind immer gegenwärtig, auch wenn wir sie nicht jederzeit wahrnehmen.
Unitarische Religion ist offen für neue Erkenntnisse und Erfahrungen.
Glauben erwächst aus Erleben und Denken. Was ihn auslöst, kann verschieden sein: Beim einen ist es ein Ergriffensein, das dann nach Begriffen oder Bildern sucht; beim anderen ist es mehr eine Einsicht der Vernunft, die dann auch Brücken zu innerem Erleben herstellt. Beides führt uns auf das schon angesprochene „Lebensganze“, das jetzt genauer erfasst wird als die Ganzheit von allem, was ist. Nach diesem Glauben gibt es nichts, was aus dieser Ganzheit herausfällt, insbesondere kein Gegenüber von „Gott“ und „Welt“. Wir rücken damit ab von der verbreiteten dualistischen Deutung der Wirklichkeit, die zu einer verhängnisvollen Entheiligung des „Irdischen“ geführt hat und als Folge zu dessen hemmungsloser Ausbeutung.
Der Glaube an diesen allumfassenden Zusammenhang beruht darauf, dass wir überall die gleichen schöpferischen Kräfte spüren, im Großen wie im Kleinen, in uns und um uns. Sie äußern sich verschieden: im Aufbauen und Zerstören, in Natur und Kultur, im Gegenüber und im eigenen Innern. Gleichwohl empfinden wir diese Kräfte in all ihrer unübersehbaren Vielfalt als letztlich eins.
Wer von Gott spricht, meint nach unserem Verständnis dieses Eine, das so schwer zu fassen ist. Der Begriff ist jedoch von Bildvorstellungen einer anderen Zeit und Kulturwelt belastet, so dass er nicht so eindeutig das bezeichnet, was wir von unseren Voraussetzungen her andeuten wollen. Auf diese Weise entsteht leicht die Gefahr, unbemerkt aneinander vorbeizureden. Viele Unitarier empfinden daher gegenüber diesem und ähnlichen Begriffen Zurückhaltung, doch bleibt es auch hier dem Einzelnen überlassen, ob er an ihnen festhalten will oder nicht. Wir normieren nicht den persönlichen Sprachgebrauch.
Der allumfassende Zusammenhang bezieht, wie alle Erscheinungsformen, auch uns Menschen – jeden Einzelnen – mit ein. Deshalb geht es uns nicht um Unterordnung unter eine höhere Macht, sondern um Einordnung in das allumfassende Ganze. Sein Zusammenhang trägt uns von innen her; zugleich aber nehmen wir auch selbst – in bescheidenem Umfang – Einfluss auf ihn und also auch auf die Ganzheit. Erneut ist damit die Doppelstellung des Menschen als eigenständig und eingebunden herausgestellt, die für unser unitarisches Denken grundlegende Bedeutung hat. Dabei verlangt das Wechselspiel zwischen uns und der Mitwelt, dass wir Entscheidungen möglichst aus ganzheitlicher Sicht fällen, unter Berücksichtigung aller jeweils zusammenwirkenden Faktoren und nicht im Sinn partikularer Interessen. Diese Verantwortung immer bewusster zu erfassen und umzusetzen, ist eine wichtige, wenn auch nicht immer leicht umzusetzende Konsequenz unitarischen Glaubens.
Bei aller Geschlossenheit dieser Konzeption sind wir grundsätzlich offen für neue Erkenntnisse und Erfahrungen. Auch dies unterscheidet unitarisches Denken von anderen Religionen. Es unterstreicht erneut, dass es bei uns keine starre Festlegung gibt.
Über das Leben
Das Leben ist ein fortwährend selbstschöpferischer Ablauf von Entstehen, Wandel und Vergehen. Es vollzieht sich in veränderlichen, wechselseitigen Abhängigkeiten.
Wir empfinden Ehrfurcht vor dem Leben, auch im Wissen um seine Widersprüche und Härten. Die Vielfalt seiner Erscheinungsformen bedeutet uns Reichtum. Bestrebungen, diese Vielfalt einzuschränken, treten wir entschieden entgegen. Die Vergänglichkeit des Einzelwesens ist eine notwendige Voraussetzung für die Entwicklung dieser Vielfalt.
Dass es Lebendiges gibt und wie unerhört vielfach es sich verzweigt, gehört zu den aufregendsten Erfahrungen, die wir machen können. Früher suchte man eine klare Grenze zwischen „unbelebter“ und „belebter“ Natur. Das lässt sich so nicht mehr aufrecht erhalten. Im Lebendigen aber erscheint die Wunderwelt des Seins sichtbar und greifbar. Das Leben ist daher für uns der deutlichste Ausdruck der schöpferischen Kräfte, die das Universum durchwirken. Das macht es für uns Unitarier zu einem religiösen Begriff, und so haben wir ihm in den Grundgedanken einen eigenen Abschnitt gewidmet. Er beschränkt sich zunächst auf Leben im biologischen Sinn.
Der erste Satz dieses Abschnitts wäre banal, wenn ihm nicht der Begriff selbstschöpferisch die besondere religiöse Note gäbe. Die Ganzheit von allem, was ist, kennt für unseren Glauben keinen Schöpfer, der ihr gegenüber stünde. Die wirkenden Kräfte, die vielfältig scheinen und doch eins sind, lassen sich nicht von den Erscheinungen selbst trennen.
Dass Leben sich stets in wechselseitigen Abhängigkeiten vollzieht, wurde lange vernachlässigt. Man dachte in einseitiger Abhängigkeit, die von oben nach unten wirkt. Dass dies unzureichend ist, hat vor allem für die Naturwissenschaften immer stärkere Bedeutung gewonnen. Wir nehmen diese Erkenntnis bewusst in unser Weltbild auf als eine fundamentale Gegebenheit. Wechselseitige Abhängigkeiten bestimmen die Struktur der Ganzheit, die bereits als ein zentraler Begriff unseres Glaubens vorgestellt wurde.
Abhängigkeitsverhältnisse können zweiseitig, aber auch als vielseitige Vernetzung erscheinen; sie können gleichgewichtige Partner verbinden oder solche von unterschiedlicher Kraft und Bedeutung; doch niemals wirkt einer allein. Das allgemeine Kräftespiel verleiht diesen Verbindungen keine bleibende Stabilität. Ihre Veränderlichkeit ist ein weiterer fundamentaler Grundzug des Lebens und Seins. Sie geht einher mit der Vergänglichkeit, der auch alle lebenden Wesen unterworfen sind, so dass immer wieder Raum frei wird für neue.
Das Leben weckt unsere Ehrfurcht. Dies bedeutet und verlangt, so wenig Lebendiges wie möglich zu vernichten. Diese Ehrfurcht ist für uns religiös begründet. Wir finden ja in allem, was ist, die gleichen schöpferischen Kräfte am Werk, denen wir selbst unser Dasein und unsere Lebensmöglichkeiten verdanken.
Trotz dieser wertschätzenden Haltung gegenüber dem Leben sehen wir nicht über seine Widersprüche und Härten hinweg. Sie entstehen immer wieder aus dem Zusammenprall von gegensätzlichen Lebensinteressen und sie folgen aus der bereits angesprochenen Veränderlichkeit und Vergänglichkeit. All dies muss der Mensch innerlich bewältigen.
Die Vielfalt der Erscheinungsformen, in denen Leben sich darstellt, ist für uns Reichtum und bedeutet Lebensqualität. Sie zu erhalten, ist uns Bedürfnis und Pflicht. Der Ausmerzung bestehender Lebensformen, ob aus Willkür oder Gleichgültigkeit, wollen wir aus religiöser Überzeugung entgegenwirken. Zum Beispiel, indem wir uns für die Erhaltung von Lebensräumen, Arten und Lebewesen einsetzen. Wir sind uns bewusst, dass Störungen des ökologischen Gleichgewichts auch auf uns selbst unmittelbar zurückwirken.
Über den Menschen
Der Mensch ist eine unter zahllosen Erscheinungsformen der Natur, eingebunden in die Evolution des Lebens. Er ist ein unteilbares Ganzes. Körperlich, seelisch und geistig entwickelt er sich im Wechselspiel mit seiner Umgebung. Alle Menschen mit ihren individuellen Unterschieden sind gleichberechtigt.
Aufgrund seiner Fähigkeit, vielfältige Zusammenhänge zu erkennen und zu bewerten, trägt jeder Mensch für sein Tun und Lassen Verantwortung gegenüber der Mitwelt und sich selbst. In allem, was er entscheidet und was ihm geschieht, liegen Chancen zur Entfaltung, aber auch Möglichkeiten der Gefährdung. Stärken und Schwächen, Schicksalsschläge und schuldhafte Verstrickungen erfordern Auseinandersetzung und Bewältigung.
Der Tod beendet das Leben des Menschen. Darüber hinaus gibt es keine Gewissheit. Dieses Wissen verstärkt unser Bestreben, bewusst und Sinn erfüllt zu leben. Jeder Mensch hinterlässt Spuren, die seinen Tod überdauern.
In den vorhergehenden Abschnitten wurde bereits Wesentliches über den Menschen ausgesagt:
- seine Einbeziehung in den allumfassenden Zusammenhang, der ihn trägt und den er beeinflusst;
- die schöpferischen Kräfte, die auch in ihm wirken;
- seine Selbstverantwortlichkeit;
- seine Fähigkeit, sich auf das Lebensganze zu beziehen und Sinn zu suchen;
- seine Begrenztheit, die ihm absolute Erkenntnis versagt.
All das wird in diesem Abschnitt nicht wiederholt, sondern vorausgesetzt und lediglich ergänzt. Dabei kann in wenigen Zeilen kein umfassendes Menschenbild entwickelt werden. Die Aussagen beschränken sich auf Feststellungen, die uns religiös und ethisch besonders wichtig erscheinen. Die erste Feststellung reiht den Menschen ein unter die zahllosen Erscheinungsformen der Natur, eingebunden in die Evolution des Lebens. Er wird also der Natur nicht gegenübergestellt und erst recht nicht über sie, sondern als Teil von ihr gesehen. Dass auch er Glied einer Evolutionskette ist, mag wissenschaftlich nicht bis ins Letzte bewiesen sein. Wir sind jedoch davon überzeugt und fühlen uns um so mehr eingebunden in die Ganzheit von allem, was ist. An einen besonderen Schöpfungsakt, der allein den Menschen hervorgebracht hätte, vermögen wir nicht zu glauben. Es ist zu betonen, dass auch gegenteilige Auffassungen auf nichts anderem als auf Glauben beruhen, weit entfernt von aller wissenschaftlichen Beweismöglichkeit.
Gewiss kommt dem Menschen in diesem umfassenden Rahmen eine Sonderstellung zu. Wir sprechen sie an durch den Hinweis, dass er sich nicht nur körperlich und seelisch entwickelt, sondern auch geistig, mit der Fähigkeit, vielfältige Zusammenhänge zu erkennen und zu bewerten. Eine geistige Existenz von dieser Intensität, mit einem so gesteigerten Anteil an schöpferischen und zerstörerischen Kräften, ist nach bisheriger Kenntnis allein dem Menschen eigen.
Aber auch dieses Geistige ist – wie das Körperliche und das Seelische – eine Äußerung des unteilbaren Ganzen, als das wir den Menschen sehen. Es begründet seine Sonderstellung, aber das ändert nichts an seiner Einbindung in die allgemeinen Gesetze des Lebens. Wir entwickeln uns im Wechselspiel mit unserer Umgebung – mit anderen Menschen, Lebewesen und Erscheinungsformen der Natur.
Individuelle Unterschiede begründen für uns keinerlei Einschränkung von Menschenrechten; diese kommen allen gleichmäßig zu ohne Rücksicht auf Abstammung, Geschlecht, körperliche Verfassung, sexuelle Orientierung, kulturelle Prägung und was an Merkmalen sonst zu nennen wäre. Die Erfahrung von Andersartigkeit fordert zur Auseinandersetzung mit sich selbst und mit anderen heraus. Das schließt Schwächen ebenso ein wie Stärken und bezieht sich sowohl auf eigene wie auf fremde Wesenszüge.
Die prinzipielle Gleichberechtigung stützt sich darauf, dass wir Menschen gleichartige Gestaltwerdungen der schöpferischen Urkräfte sind. Dies hat viele Konsequenzen, beispielsweise für zwischenmenschliche Beziehungen, die prinzipiell partnerschaftlich gestaltet werden sollten. Auf der Rechtsgleichheit beruht – neben den geistigen Fähigkeiten des Menschen – auch seine persönliche Verantwortung, die nicht abgewälzt werden kann. Es ist uns wichtig, dass sie sich nicht allein auf das Tun, sondern auch auf das Unterlassen erstreckt. Und wir betonen auch, dass der Mensch diese Verantwortung nicht allein gegenüber seiner Mitwelt, sondern auch gegenüber sich selbst und dem eigenen Leben hat.
Aber der Mensch übt nicht nur durch Entscheidungen, die er zu verantworten hat, Einfluss aus, er ist auch einbezogen in Abläufe, die von außen her auf ihn einwirken und von ihm nur wenig beeinflusst werden können. Persönliche Veranlagungen setzen uns Grenzen, bewirken womöglich schuldhafte Verstrickungen.
Der Begriff der Alleinschuld allerdings wird der Einbindung des Menschen in wechselseitige Abhängigkeiten nicht gerecht. Schicksalsschläge brechen von außen herein, oft ganz ohne unser Zutun. Herausforderungen kommen also von innen wie von außen. Sie können Kräfte entbinden, die den Menschen über sich hinauswachsen lassen; sie können ihn jedoch auch gefährden bis zum Scheitern und Untergang.
Auseinandersetzung und Bewältigung muss von jedem einzeln geleistet werden, auch wo große Gruppen gemeinsam betroffen sind: Was ist dabei mein Anteil? Wie weit habe ich an mir zu arbeiten? Wie weit muss ich mich einfach annehmen? Wie durchstehe ich Leid? Wann sollte ich „vergeben“, das heißt, auch die Chance zu Wandlung und Neuanfang lassen? – Dies sind wenige Fragen von vielen, für die niemand allgemein gültige Rezepte anbieten kann; Lösungen müssen immer wieder ganz persönlich gefunden und verantwortet werden, auch wenn andere dabei Rat und Unterstützung geben können.
Stärkste Auseinandersetzung und Bewältigung verlangt immer wieder der Tod – das Lebensende von Menschen, die uns wichtig sind, und das bevorstehende eigene Sterben. Unter den Härten des Lebens steht dies mit an erster Stelle. Wie allgemein in der Natur, so ist auch für uns Menschen die Vergänglichkeit des Einzelnen notwendige Voraussetzung dafür, dass sich die Vielfalt des Lebens erneuern und weiterentwickeln kann.
Dass der Tod für jeden von uns sein individuelles, persönliches Leben beendet, ist unsere einzige Gewissheit. Er kommt unwiderruflich. Wir dürfen wirken, doch wir wissen nicht, wie lange. Dies ist für uns ein besonders wichtiger Antrieb, das Leben und auch den Alltag sinnvoll zu gestalten und den Augenblick bewusst zu erfassen, in dem allein das Leben unmittelbare Gegenwart ist. Jeder Mensch hinterlässt Spuren über seinen Tod hinaus, unterschiedlich nach Intensität, Dauer und Art: vielleicht Kinder, ein Haus, ein Buch, vielleicht Einflüsse auf Staat und Gesellschaft, vielleicht auch Wirkungen in einem kleineren persönlichen Umkreis, schließlich Erinnerungen, die sein besonderes Sosein, seine Ausstrahlung hinterließ. Doch auch wer vergessen ist, und das ist normalerweise nach wenigen Generationen der Fall, hat einmal auf seine Umgebung gewirkt und übt damit vielleicht noch indirekt Einflüsse aus.
Über Zusammenleben
Persönliche Entfaltung vollzieht sich im Spannungsfeld zwischen dem Streben nach Eigenständigkeit und dem Bedürfnis nach Liebe und Geborgenheit. Deshalb braucht der Mensch Gemeinschaften, die ihn tragen und die er mitgestalten kann.
Unser Leben entfaltet sich am besten im friedlichen Zusammenleben selbstverantwortlicher Menschen. Mit diesem Ziel wollen wir aktiv in Gesellschaft, Staat und Menschheit mitwirken. Konflikte wollen wir gewaltlos austragen, indem wir uns um Verständigung bemühen.Wir erkennen an, dass es Konflikte gibt, die wir nicht lösen können und deshalb aushalten müssen.
Wir leben in der Natur und sind Teil von ihr. Darum fühlen wir uns – auch unter persönlichem Verzicht – zu rücksichtsvollem Umgang mit ihr verpflichtet.
Wir Menschen sind – wie schon mehrfach betont – niemals nur eigenständig, sondern immer auch eingebunden in Leben, das uns umgibt. Das macht die Zweipoligkeit unseres Daseins zwischen Ich und Umfeld, zwischen Getragenwerden und Mitgestaltung aus.
Zusammenleben ist ein entscheidendes Element menschlicher Existenz, und es beschränkt sich keineswegs allein auf den mitmenschlichen Bereich. Wieder gibt es die verschiedensten Formen. Eine besondere Rolle spielt die Bildung von Gemeinschaften. Dabei sind es zunächst die Beziehungen im privaten Bereich, die unserem elementaren Bedürfnis entsprechen. Aber auch die Öffentlichkeit bezieht uns ein und stellt gleichfalls Aufgaben.
Unitarier sind auf verschiedensten Ebenen aktiv. Ihr höchstes ethisches Ziel ist Frieden. Voraussetzung dafür ist Verständigung, denn Frieden ist mehr als die bloße Abwesenheit von Krieg und Gewaltsamkeit. Das Bemühen um Verständigung gründet in der Ehrfurcht vor dem Leben – auch dem, das uns in Partnern mit gegensätzlichen Bedürfnissen begegnet. Dasselbe gilt für den Wunsch, Konflikte gewaltlos auszutragen.
Dieses Vorhaben stellt unter Umständen hohe Anforderungen an die schöpferische Fantasie, an Offenheit, Selbstbeherrschung und Augenmaß für fremde wie eigene Lebensinteressen. Solche friedlichen und gewaltlosen Wege sind meistens schwerer zu verwirklichen als ein Ausbrechen in Gewalt. Allerdings ist Verständigung nicht immer zu erreichen. Dann gilt es, die Konflikte auszuhalten und Lebensformen zu entwickeln, die die Spannungen möglichst entschärfen.
Wir sind aber nicht allein in mitmenschliche Zusammenhänge eingebunden, sondern auch Teil der Natur. Was zwischen Menschen der Frieden leistet, findet hier seine Entsprechung in einem rücksichtsvollen Umgang, der die übermäßige Ausbeutung der Natur vermeidet und die Grenzen ihrer Regenerationsfähigkeit so weit wie möglich wahrt. Beides entspricht unitarischer Grundhaltung und beides wirkt wieder auf den menschlichen Bereich zurück, indem es für Gegenwart und Zukunft Lebensmöglichkeiten erhält.